Innovativ alles wie früher machen! 

- Wie die zwangsweise, regelmäßige Neuerfindung der Nachbarschaftsarbeit permanente Innovationen schafft 

Haben die Weichen für die Zukunft gestellt – Bürgerhäuser wie die Weberei in Gütersloh

Neues machen müssen ist noch lange keine Innovation 

Die guten, alten Zeiten werden derzeit genauso oft als Wunsch geäußert wie die Sehnsucht, dass doch alles wieder so normal wie vor den virengetriebenen und militärischen Konflikten würde. Gleichzeitig hört man aber auch an jeder Ecke die Forderung nach Innovation und die Notwenigkeit, sich täglich neu erfinden zu müssen. Wie passt das zusammen? Gleichzeitig innovativ und wie früher sein!?

Nach der Coronazeit wurden viele Veränderungen als Innovation verkauft, obwohl sie eigentlich nur die späte, existenzrettende Reaktion auf eine externe Veränderung waren. Tickets durch eine Plexiglasscheibe hindurch zu verkaufen ist genauso wenig eine Innovation wie für Menschen, die nicht mehr in die Stadtteilzentren kommen konnten oder durften, aufgezeichnete Konzerte oder Theaterstücke im Internet abrufbar zu machen. Eine gewissen Firma namens Youtube lebt davon bereits seit Jahren. Die Pandemie an sich war in den seltensten Fällen Treiber von Innovation, auch wenn sie natürlich in vielen Bereichen den Zwang nach Veränderung geschaffen oder erhöht hat. Ein nicht abzusehender Veränderungsdruck von außen hat selten zukunftsfähige Innovation zutage gebracht. Genauso selten waren panische Notveränderungen in letzter Minute nachhaltig erfolgreich. Agfa ist der Digitalfotographie ebenso wenig innovativ begegnet wie viele Plattenfirmen Spotify oder diverse Stadtmarketingbüros Amazon und Zalando. Wie das jeweils endete, wissen wir alle.


Mutiges Neues aus Überzeugung und nicht aus Notwendigkeit 

Innovation heißt vielmehr aus eigenem Antrieb, aus intrinsischer Überzeugung, neue Dinge wagen. Konzepte, Ideen und Formate, mit denen man glaubt, in der nächsten Entwicklungsstufe besser und erfolgreicher aufgestellt zu sein oder einfach einen künftigen Bedarf decken zu können. Der Schrei nach dem Guten von gestern ist dabei nur ein natürliches und verständliches Verhalten aller Menschen, da sie Sorge vor negativen Veränderungen haben und sich mit so einer Forderung bei einem Innovations-Misserfolg immer die Hintertür offen zu lassen, um zu sagen „ich hab’s ja immer gesagt!“. Bei erfolgreichen Innovationen fordert niemand die Vorgängerversion zurück. Die Welt war mit intakterer Natur früher zweifelsfrei besser, aber ohne Penizillin natürlich nicht. 

Ein Großteil aller neuen Ideen endet nicht in einer erfolgreichen Innovation, sondern mit einem Misserfolg. Jedes Nachbarschaftshaus kann Lieder von tollen, innovativen Ideen singen, die aber kein Mensch sehen oder nutze wollte. Dabei ist genau dieser Mut oder auch das Wissen um die Veränderungsnotwenigkeit essentiell. Deutschland lacht häufig noch lieber über den insolventen Kaufmann oder Träger, anstatt zu würdigen, wie er mit viel Arbeit und seinem verbliebenen Geld und bis zur letzten Minute versucht hat, Arbeitsplätze zu schaffen, soziale Angebote zu erhalten und etwas zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen.

Steffen Böning ist seit über 10 Jahren Geschäftsführer des Bürger- und Kulturzentrums „Die Weberei“ in Gütersloh und Mitglied im NRW-Landes- und Bundesvorstand des VskAs.

Innovation im sozial-kulturellen Bereich 

Wie kennzeichnen sich nun Innovationen in der Sozialkultur und im Gemeinwohlwesen? Ein Unterschied ist, dass Innovationen aus diesen Bereichen meist erst gesehen und gewürdigt werden, wenn die gesellschaftliche Not groß ist. Auf das neue iPhone blickt jeder sofort und findet es höchst innovativ. Subkultur wie nicht-kommunale soziale Arbeit muss sich per se erstmal täglich neu erfinden, allein um zu überleben. 

Diese Spieler gelten dabei aber zunächst nicht als sonderlich innovativ. Bei ihnen heißt es immer wieder, mit einem Bruchteil der Mittel, mindestens genauso gute Arbeit zu machen wie staatliche Philharmonien, Theaterhäuser, Stadthallen und öffentliche Jugendzentren und Kinderhorte. Häufig wird die schnelle Veränderung dieser freien Spieler in „guter“ Zeit als störend und nervig wahrgenommen und sie werden unter dem Deckel gehalten. Fallen dann auf einmal tausende 3jährige Kinder vom Himmel, von denen das Sozialdezernat nichts ahnen konnte und keine Kindergartenplätze geschaffen hat, ist der Ruf nach den „nervigen“ freien Trägern jedoch schnell da. Nicht Stadtwerke oder Energiekonzerne sollten in der Energiekrise Wärmestuben errichten, nein die Nachbarschaftshäuser. Wieso können diese besser und schneller solche häufig sogar absehbaren Probleme lösen? Ganz einfach: Weil sie vorher schon innovativ waren, agil handeln können und flexibel mit neuen Herausforderungen umgehen müssen. 

Brauchen wir das schräge Stadtteilzentrum, auch wenn es nur eine geringe Förderung erhält? Es ist eh nur frech und bunt und dabei haben wir doch den unproblematischen städtischen Jugendtreff, der doch auch immer mittwochs einen „Treff für alle“ anbietet – so wie seit 35 Jahren. Gibt es dann aber auf einmal mehr Menschen, die sich keinen Zugang zur traditionellen Sozialarbeit oder Kultur mehr leisten können oder den Zugang aufgrund von sprachlichen, kulturellen oder gesundheitlichen Barrieren nicht mehr wahrnehmen können oder wollen, hört man schnell politische und öffentliche Forderungen nach niederschwelliger Kultur, die ja bekanntlich der so wichtige Kit der Gesellschaft ist. Nachbarschaftshäuser sollen über Nacht Konzepte für Integration und Zusammenhalt aus dem Hut zaubern. Aber siehe da, wer hat schon seit vielen Jahren Seniorenchöre, internationale Theatergruppen und günstige interaktive Kindertheatervorstellungen im Programm? Wer lässt ältere, immobile oder Menschen mit Handicap auch schon ohne Corona digital an Podiumsdiskussionen teilnehmen? Wer kennt die Menschen im Kiez und bringt sie traditionell zusammen und in Verbindung? Richtig, die ebenfalls vor 35 Jahren gegründeten Sozialkultur- und Nachbarschaftshäuser! Genau diese dürfen jetzt bitte gerne mit ihren innovativen Formaten und Programmen die Probleme der Gesellschaft lösen. Und sie können es und tun es.


Genialität oder Ziel des Systems? 

Sind freie Sozialträger und Menschen, die in der Sozialkultur arbeiten nun bezogen auf Innovation so viel genialer als andere? Sicherlich nicht. Es ist zweifelsfrei der positive Aspekt des permanenten Kurz-Haltens, des regelmäßigen In-Frage-Stellens, des finanziell in Unsicherheit Wissen-Lassens, das bei diesen Spielern eine Agilität, ein Ideenreichtum, ein Über-den-Tellerrand-Schauen, ein Nach-Neuem-Suchen ausbildet und trainiert. Dieses würde sicherlich verloren gehen, wenn man ihnen das Leben zu einfach macht. Wird Sozialkultur kommunal, schafft sie sich per Definition ab. Werden Nachbarschaftshäuser zu kommunalen Kindergärten und Jugendzentren, gilt das gleiche. Denn wie innovativ öffentliche soziale und kulturelle Institutionen sind, lesen wir ja täglich, wenn beispielsweise in einem Problembezirk Quartiersmanager:innen benötigt werden. Dann rückt selten das Sozialamt an, sondern innovative freie oder kirchliche Träger. 

Man mag gar nicht daran denken, wie es in Deutschland im sozialkulturellen Umfeld aussehen würde, wenn man diesen „Zwangs-Innovatoren“ nur ein klein wenig Ballast abnehmen würde und ihnen ein paar weniger Steine in den Weg legen würde. Sie könnten Menschen sichere und langfristige Arbeitsplätze bieten, Ressourcen in Inhalte statt in Bürokratie und Selbstrechtfertigungen stecken und sie würden trotzdem beim nächsten Ruf mit Herz und Hirn zur Stelle sein.


Nutzen wir diese Chance – und nicht erst beim nächsten Notfall!


Autor: Steffen Böning, Geschäftsführung Bürger- und Kulturzentrums „Die Weberei“ und Mitglied im NRW-Landes- und Bundesvorstand des VskAs

Organisation: Bürgerkiez gGmbH, Bogenstraße 1-8, 33330 Gütersloh