Teilen als sozio-kulturelle Praxis in sozial gemischten Nachbarschaften
Forschung zum Teilen
Den Forschenden ging es darum herauszufinden, unter welchen Bedingungen, an welchen Orten und mit wem Menschen in sozial gemischten Nachbarschaften teilen. Die unterschiedlichen Lebenssituationen und Hintergründe der Nachbar:innen wurden in den Blick genommen, Grundlage waren u.a. sozialräumliche Daten der Bezirksregion (Bezirksregionenprofil zur Bezirksregion IV - Südliche Luisenstadt - Berlin.de [Online] verfügbar hier), die berlinweit von den jeweils zuständigen Organisationseinheiten zur Sozialraumorientierten Planungskoordinationen (OE SPK) erstellt werden.
Die Forschung hatte das Ziel, die Voraussetzungen zu analysieren (materielle bzw. räumliche, sozio-kulturelle, etc.), die das Teilen von Ressourcen im Quartier fördern bzw. hemmen. Insbesondere welche Orte und Ausstattungen das Teilen begünstigen und welche Rolle Akteur*innen bzw. Einrichtungen mit ihren Architekturen und Räumen spielen, wie z.B. Stadtteilzentren oder Familien- und Nachbarschaftszentren. Dazu wurden Nachbarschaften in Berlin, Stuttgart und Kassel miteinander verglichen und das Thema Teilen, im Rahmen einer internationalen Forschungsbrücke (ProShare) u.a. bei marginalisierten Gruppen in Österreich, Schweden, Großbritannien und Frankreich genauer untersucht. Der folgende Beitrag basiert auf der Buchpublikation des Forschungsprojekts StadtTeilen (Veröffentlichung Anfang 2024 im transkript Verlag, Titel: StadtTeilen. Neue Praktiken gemeinschaftlicher Nutzung urbaner Räume)
Untersuchungsgebiet rund um den Görlitzer Park
Im Berliner Wrangel- und Reichenberger Kiez, zwischen denen der Görlitzer Park liegt, wurde in und mit der Nachbarschaft untersucht, welche Orte und Ausstattungen das Teilen fördern oder hemmen und welche Konflikte existieren. Die Forschung war im Rahmen eines Praxislabors als gemeinsamer Prozess von Wissenschaftler*innen, Nachbar*innen und institutionellen Akteur*innen angelegt. Das Praxislabor war eine Art Werkzeugkasten oder partizipatives Methodenset, in dem es um die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und Perspektiven ging. Es sollten Praktiken des Teilens gefördert werden, insbesondere mit einem sogenannten Raumexperiment. In diesem fanden sozio-kulturelle Lern- und Gestaltungsprozesse unter Beteiligung von unterschiedlichen Expert*innen aus Nachbarschaft und Wissenschaft statt. Professionen wie Design, Architektur, Stadtsoziologie, Soziale Arbeit und Praxisforschung und Pädagog*innen waren ebenso beteiligt wie Anwohner*innen obdachlose Nachbar*innen, soziale Einrichtungen, Aktivist*innen, zivilgesellschaftlich Engagierte, Kirchenvertreter*innen, urbane Gärtner*innen u.v.m.
Die zuvor im Praxislabor (über analoge und digitale mappings, Zeichnungen, Befragungen, Interviews, Dialogveranstaltungen) eruierten Bedarfe wie nachbarschaftlicher Austausch und Solidarität sowie Selbstorganisation von zivilgesellschaftlichen Gruppen (z.B. durch die Ausstattungen des öffentlichen Raums dafür) wurden mit dem Raumexperiment aufgegriffen und architektonisch und stadtplanerisch (mit Entwürfen und Modellbauten) umgesetzt.
Konkrete Planungen umfassten, dass die Fläche langfristig entsiegelt, Bäume gepflanzt und ein Brunnen oder Wasserspiel angelegt werden sollte. Kurz- und Mittelfristig sollte der Vorplatz wie ein Dorfplatz wirken und mit kleineren und visuell durchlässigeren Raumelementen (anstelle der bisherigen) ausgestattet werden. Diese sollen einladen zum: Sitzen, Treffen, Verweilen, Austausch, Vortrag und auch zur Nutzung von Kirchenräumen.
Die Vorschläge wurden öffentlich diskutiert und auch an Politik und Verwaltung herangetragen. Dazu wurden Planungen zum Vorplatz und bauliche Ausstattungen als Modelle erstellt. Die Modell-Entwürfe setzen Beiträge zur Steigerung von Raumqualitäten um, wie z.B. kühlende Orte, Pflanzen, Rückzugsorte mit hoher Aufenthaltsqualität. Weitere Ergebnisse des Raumexperiments sind Modelle und Bauanleitungen zur Raumausstattung in den Bereichen Begrünung, Information, Transport, Aufenthalt. Hierzu zählen u.a. die Kiezbox, Hocker, Treppenbeete und Rundhochbeete.
Experten*innen
Kritisch zu reflektieren sind Gruppenbegleitungen durch das Praxislaborteam, die selbstorganisierte Gruppenprozesse teilweise ersetzten. Die Begleitung mit Dokumentationen, Entwürfen, Bauanleitungen und Modellbau sollte das Engagement der Nachbar*innen ergänzen, führte aber aufgrund von Expert*innenwissen auch dazu, dass sich Aktivitäten engagierter Gruppenmitglieder reduzierten (Bretfeld, Nada, 2020).
Unfertig und in Bewegung
Es sind kleinteilige und nahezu vollständig transportable Lösungen, die Impulse für eine Vielzahl von kleinen Treff- und Grünorten geben sollen. Gleichzeitig sind sie ein Antwortversuch auf die geäußerten Bedarfe unterschiedlicher Gruppen der Nachbarschaft, z.B. Kinder, Familien und Senior*innen ebenso wie obdachlose Menschen und andere marginalisierte Gruppe. Ziel ist es, dass sich verschiedene Nutzer*innen angesprochen bzw. gemeint fühlen und eine sogenannte Lesbarkeit und Aneignungsmöglichkeit dieser Ausstattungen für unterschiedliche Nutzer:innen besteht.
Durch die Kleinteiligkeit, Durchlässigkeit und Flexibilität in Größe und Nutzung sollen die Modelle im Entwicklungsprozess verbleiben. Raumgestaltungen und Nutzungen sollen in Verhandlung bleiben, so dass sie als Raumressourcen für verschiedene Nutzer*innen zugänglich sind. Diese Ausstattungen sollen Räume offenhalten bzw. öffnen und so das Teilen und diversere Nutzen der Räume anregen.
Ergebnisse
Die Modellbauten wie die Kiezbox und Hocker (Bewegungsmöbel) werden nicht nur von der Gartengruppe der Taborgemeinde, sondern weiterhin von der Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit in Kreuzberg und auch in anderen Berliner Quartieren sowie von Initiativen und Vereinen eingesetzt. Als mobile und multifunktional Rauminterventionen werden sie regelmäßig für Information, Transport und Austausch sowie bei Veranstaltungen genutzt. Solche Modelle werden von Nachbarschaftsgruppen verwendet, angeeignet, ergänzt und weiterentwickelt. Die jeweiligen Adaptionen greifen Wünsche der einbezogenen Gruppen auf und regen zum Teilen und Austausch auch gruppenübergreifend an.
Darüber hinaus ist geplant, die Raumausstattungen auch in anderen öffentlichen und halböffentlichen Räumen, wie der neu entstehenden Kiezklimafläche, um das Nachbarschaftszentrum Kiezanker 36 im Wrangelkiez zu nutzen. Damit soll selbstorganisiertes Teilen von Räumen und Ressourcen sichtbar gemacht und unterstützt werden. Die Forschungen zeigen, dass multicodierte Flächen durch kleinteilige, mobile und separierende Raumaufteilungen und Ausstattungen, die flexible Angebote zwischen Schutz- und Begegnungsräumen machen, besser oder überhaupt erst funktionieren.
Ein weiteres Learning besteht darin, dass es beim (Raum-)Teilen um eine Kultur und Haltung geht. Von der Trennwand bis zum Hocker, von der Initiative bis zur Institution sind Offenheit, Verhandlungsbereitschaft und das Beweglich-bleiben zentral. Oft geht es auch „nur“ darum das Nebeneinander gut aushaltbar zu machen (ob räumlich separiert oder zeitlich versetzt) und so zu organisieren, dass es anpassbar bleibt.
Nicht zuletzt geht es geht darum anzuerkennen, dass es besonders schutzbedürftige Nutzer*innen des öffentlichen Raums gibt, deren Nutzungen einander ausschließen (Obdachlose, Suchterkrankte Menschen ebenso wie Kleinkinder). Diese Dilemmata sind zu priorisieren. Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit bzw. Ausschließlichkeit sind die vorhandenen Nutzungen vulnerabler Gruppen, die keine Alternativen haben (Kinder, hochaltrige Menschen, Obdachlose, Suchterkrankte Menschen) zuerst mitzudenken, mitzuplanen und organisatorisch, ressourcenseitig und räumlich zu berücksichtigen und baulich umzusetzen (Konsum- und frei zugängliche Toiletten gehören genauso zur Infrastruktur der Stadt wie Spielplätze, damit diese Nutzungen nicht auf Spielplätzen stattfinden).
Das How-To-Share – Was braucht das Teilen in gemischten Nachbarschaften?
Die sozialen Prozesse, die bestehenden und sich verändernden Beziehungen in Nachbarschaften, das „mit wem zusammen“ drückt sich in Nutzungen, Sprache aber auch im Gebauten und in den Raumausstattungen aus. Es sind vielfältige Kommunikationsformen zu berücksichtigen und Prämissen, die das Miteinander zulassen und das Teilen ermöglichen.
Ebene Nachbarschaft (Modell-Ebene)
- Vertrauen, verlässliche Beziehungen und Zuständigkeiten bzw. Ansprechbarkeit,
- klare Rollen und langfristige Engagements – verantwortlich sein und bleiben
Ebene Stadt und Gesellschaft (Transformation)
- Durchlässigkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Orten und Ausstattungen,
- Zugänglichkeit und Sichtbarkeit von Gruppen und Praktiken, damit mehr und andere Menschen sich immer wieder angesprochen und eingeladen fühlen
- Aneignungs- und Gestaltungmöglichkeiten für neue, auch nebeneinander stattfindende oder zeitlich versetzte Nutzungen
Wenn Teilen langfristig für andere offen sein soll, wenn es sichtbar bleibt und Regeln immer wieder reflektiert, verhandelt und auch durchgesetzt werden, kann im Teilen ein gesellschaftlicher Weg, zwischen privater und staatlicher Organisation, zwischen öffentlichen und privaten Räumen liegen und Prozesse des Teilens können zur Transformation von Städten und so zur Transformation von Gesellschaft beitragen.
Dazu sind einerseits Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu bestimmen und andererseits regelmäßig herauszufordern. Übergeordnete Regeln werden gebraucht, um Minderheiten zu schützen und exklusiven Communities einzudämmen bzw. zu verhindern.
In den Nachbarschaften, in denen viel geteilt wurde, konnten neben den relevanten Orten auch Narrative und Personen, die gewissermaßen als Vorbilder oder Protagonisten dieser Narrative dienten, beobachtet werden. Erzählt wird das „wie wir hier miteinander sind“, verhandelt werden muss geradezu täglich „gegen wen das verteidigt werden muss“ oder „mit wem die Nachbarschaft teilen soll“.
Diese Art von Nachbarschaft oder Teilen-Gemeinschaft zu pflegen, ist Voraussetzungsvoll. Es verlangt, dass Nachbar*innen aber auch Institutionen verhandlungsbereit sind, sich stark einbringen und in hohem Maße engagieren und Verantwortung übernehmen.
Teilen ist eine soziale Praxis, die Gelegenheiten, Vorbilder, Narrative, Orte und Ausstattungen braucht und Zeit für Rituale, Ressourcenaufbau und Pflege fordert. Dabei müssen Unfertiges, Unsicherheiten und Widersprüche ausgehalten werden. Teilen, als kreieren von Gemeingütern, findet statt, wenn Menschen und Institutionen bereit sind „bewegt-zu-werden“ und sich in einem „Dazwischen“ aufzuhalten.
Mit anderen Worten, Teilen ist lebendig, dort wo es tagtäglich gemacht und verhandelt wird. Dazu werden vor allem Gelegenheiten gebraucht - Orte mit mehreren Räumen wie Stadtteilzentren, Familien- und Nachbarschaftszentren und Ausstattungen wie nicht-kommerzielle Informationstafeln und Tausch- bzw. Teilorte wie Giveboxen.
Und oft auch Vorbilder, Stichtwortgebende, die Vielen in der Nachbarschaft bekannt sind und mit denen Erzählungen davon verbunden sind „wie geht das hier“.
Dies können Personen, wie Ulf Mann im Berliner Wrangelkiez oder Gruppen wie Bizim Kiez oder die GloReiche Nachbarschaft oder auch Orte, wie der Kiezanker 36, Familien- und Nachbarschaftszentrum im Wrangelkiez sein.
Dieser Text ist Ulf Mann gewidmet (1941 - 2023), der für das Teilen und für den Wrangelkiez wichtig ist.
#Teilen-Kultur #StadtTeilen #Forschung #Nachbarschaften #Gemeinwesenarbeit #Grundlagen sozialräumlicher Arbeit im PFH
Literatur
Bretfeld, N., Cermeño, H., Koch, F. (2024). „Das Praxislabor: Forschen in und mit Nachbarschaften“ in Bernhardt, F. et al. (Hg.), StadtTeilen Neue Praktiken gemeinschaftlicher Nutzung urbaner Räume, transcript Verlag, Bielefeld, S. 133-165.).
Bretfeld, Nada, 2020: Experts Trouble IN: Spatial Commons. Die Nachbarschaft und ihre Gewerberäume als sozial-räumliches Gemeingut Herausgeber: Dagmar Pelger, Nada Bretfeld, Anna Heilgemeir, Jörg Stollmann
Autorin: Nada Bretfeld, Fachreferentin Stadtteil- und sozialraumorientierte Arbeit
Organisation: Pestalozzi-Fröbel-Haus Stiftung öffentlichen Rechts, Karl-Schrader-Str. 7-8, 10781 Berlin