Interaktives inklusives Kunstprojekt
Das Kunstprojekt ZEITKAPSEL der Künstlerin Miriam Worek war ein audiovisueller öffentlicher Raum in einer technisch und künstlerisch aufbereiteten gelben Telefonzelle. Anstatt zu telefonieren konnte man sich audiovisuell auf eine Reise durch Giesings Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begeben. Aus drei Epochen wurden Videos, Podcasts, künstlerische Arbeiten, Interviews, Fotografien und Zeitzeug:innen- Gespräche präsentiert, die von und mit Viertel-Bewohner:innen, Künstler:innen, Studierenden, Vereinen, Einrichtungen und vielen weiteren Beteiligten aller Generationen produziert oder aus Archiven lebendig gemacht wurden.
Durch das Projekt „Ois inklusiv!“ im NachbarschaftsTreff Giesing wurde in Zusammenarbeit mit der Künstlerin den Nachbar:innen die Möglichkeit eröffnet, eigenständig mitzumachen und Teil des gemeinschaftlichen Projekts zu werden. Aktiv über die Einreichung eines Beitrages (Teilgabe) oder passiv durch einen Besuch der ZEITKAPSEL (Teilhabe). Damit wirklich alle Interessierten mitmachen konnten, mussten einige technische Anpassungen vorgenommen werden. Insbesondere waren das:
- Eine Rampe für mobilitätseingeschränkte Personen
- Hinweistafeln in einfacher Sprache und QR-Codes für barrierefreie Erklärungen und Vorlesefunktion (Screenreader)
- Relief- bzw. Braille-Beschriftungen
- Audiodeskription für die meisten Beiträge
Die genannten Elemente sind aber nicht (nur) als ein „spezieller Service“ für Menschen mit einer Behinderung zu sehen, sondern sie bieten vielen weiteren Teilzielgruppen, wie beispielsweise älteren Personen, Menschen mit Migrationshintergrund und anderen vielfältige Erleichterungen. Die inklusiven Elemente wurden auch nicht, beziehungsweise nur in Ausnahmefällen (Im Stadtviertel gibt es einen „Cluster“ von Einrichtungen der Wiedereingliederungshilfe (Behinderteneinrichtungen), deren Akteure gezielt auf den Aspekt der Barrierefreiheit hingewiesen wurden), explizit beworben, um nicht – wie sonst üblich – den Sonderfall hervorzuheben, sondern ganz selbstverständlich Angebote für alle zu präsentieren.
„Zeitkapsel Künstlerin Gäste“: Künstlerin Miriam Worek vor der Zeitkapsel mit Rampe und Infotafel mit Braille-Schrift und QR-Code für Leichte Sprache, © Ois inklusiv!
„Gottesdienst“: v.l. Katholische Schwester, Rollstuhlnutzende mit Assistenz, Gebärdensprachdlometscherin, Diakon, © Ois inklusiv!
Interaktiver inklusiver Stadtteil-Gottesdienst
Im zweiten Fall wurden in Zusammenarbeit mit einer Kirchengemeinde besondere Gottesdienste konzipiert. Sie richteten sich an alle Menschen im Stadtviertel, unabhängig vom individuellen Glauben, der Herkunft oder einer etwaigen Behinderung beziehungsweise Krankheit. Auch hier war das „Projekt“ interaktiv angelegt, indem die Gottesdienste Mitmachelemente enthielten. So gab es zum Beispiel einen Parcours mit verschiedenen Stationen zum gewählten Predigt-Thema. Hier konnten die Teilnehmenden jeweils etwas für sich mitnehmen oder abgeben. Des Weiteren gab es eine Kennenlernrunde zur Begrüßung sowie den üblichen Ausklang bei Kaffee und Keksen.
Unter Inklusionsgesichtspunkten wurden folgende Punkte durchgängig umgesetzt:
- Lesung und Wortbeiträge in einfacher Sprache
- Fürbitten durch Betroffene (z.B. Rollstuhl-Nutzende oder psychisch Erkrankte)
- Induktionstechnik für Hörgeschädigte
- Gebärdensprachdolmetschung für Gehörlose
Auch an einem extrem formellen Ort eines Gotteshauses konnte durch Einbinden der Akteure im Vorfeld, als auch durch die inklusiv-interaktive Gestaltung des Ablaufs, die soziokulturelle Teilhabe und -gabe aus dem gesamten Spektrum der Nachbarschaft gestärkt werden. Das jeweilige Vorgehen ist dabei nach Erfordernissen, Wünschen und Möglichkeiten flexibel anzupassen, da Nachbarschaften nicht statisch sind, sondern sich ständig im Prozess des „Werdens“ befinden (Tappert, 2020)
Das inklusive Herz schlägt für aktive Nachbarschaft
Was also macht inklusive soziokulturelle Nachbarschafsarbeit aus? Eigentlich ist es ganz einfach: Es braucht Anlässe, und es braucht Räume, an welchen sich zumindest zeitweise die einzelnen Nachbarinnen und Nachbarn zu Gemeinschaften zusammenfinden können. Das können extra für diesen Zweck bereitgestellte institutionelle Orte wie beispielsweise Nachbarschaftstreffs sein. Das können Anlässe wie Feste oder auch Gottesdienste sein. Oder aber andere „Dritte Orte“ (Dritte Orte (vgl. Oldenburg, 1989) sind vereinfacht gesagt, Plätze des Zusammentreffens außerhalb der eigenen Wohnung oder des Arbeitsplatzes im öffentlichen oder halböffentlichen Raum. Dies können Treffpunkte in Gemeinden und sozialen Organisationen sein, genauso wie Kneipen, Gasthäuser sowie Plätze oder Parks), die den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit der Begegnung mit Kunst und Kultur sowie einander bekannten, aber auch unbekannten Personen ermöglicht und „im gewissen Maß geteiltes Erleben der Atmosphäre eines Ortes“ erlauben (Kazig, 2023).
Damit dies auch gelingen kann sind einige Voraussetzungen notwendig:
- Sichtbarkeit im Raum bzw. zentrale Lage im Quartier
- Kooperations- bzw. Kollaborationspartner müssen offen für interaktive und inklusive Elemente sein
- technischer Infrastruktur zur Teilhabe muss vorhanden sein oder hergestellt werden (Rampen, Hörhilfen usw.)
- Für Menschen mit Behinderung muss ein angepasstes Kommunikationskonzept entwickelt werden: Mehrsinne-Prinzip, Leichte Sprache, Blindenschrift, ggf. (Gebärden-)Sprachdolmetschung usw.
- Extra-Ressourcen (Budget und Expertise) für Prozessbegleitung nötig
Eines der wichtigsten „Learnings“: Alle Aktionen erreichen die Zielgruppen am besten beziehungsweise wirken am nachhaltigsten, wenn sie quasi im „Alltag“ stattfinden. Spezifische Formate für einzelne Themen oder Zielgruppen, wie zum Beispiel „Menschen mit Behinderungen“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ haben durchaus ihre Berechtigung. Sie sind aus den Erfahrungen mit den vorgestellten Angeboten aber vergleichsweise weniger effektiv. Eingebaut in alltagsweltliche niedrigschwellige Anlässe oder Aktionen, können Teilhabe und Teilgabe praktisch „im Vorübergehen“ passieren und so das Gemeinschaftsgefühl von Nachbarschaft befördern. Mit Blick auf gelebte Inklusion kann Nachbarschaftsarbeit so tatsächlich im Sinne der UN-BRK für alle erlebbar und für alle mitgestaltbar organisiert werden.
Literatur
Kazig, R. (2023): Atmosphären als Ressource von Partizipation und Quartiersentwicklung. vhw-Schriftenreihe Nr. 38.
Lang, S. (2019): Partizipative Kulturprojekte. Theoretischer Rahmen und Modellierung. In: Kulturelle Teilhabe – Ein Handbuch. Hrsg. Nationaler Kulturdialog. S. 295-303
Oldenburg, R. (1989): The Great Good Place. Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and how they get you through the Day. New York.
Tappert, S. (2020): Lebenswelt „Nachbarschaft“ als lokales Potenzial städtischer Entwicklung. In: Rundbrief Stadtteilarbeit. Verbundene Vielfalt Innovation und Tradition in der Nachbarschaftsarbeit. Rundbrief 1–20. S. 15-18
Timpe, A. /Christenn, K. (2022): Grüne Infrastruktur gemeinsam entwickeln. In: pnd|online 2/2022, 197–219
Autor:innen Melanie Bergzoll ist Projektkoordinatorin von „Ois inklusiv!“ ((ois = oberbayrisch für alle, alles) am NachbarschaftsTreff Giesing. Das Projekt in München wird von der Aktion Mensch finanziert und widmet sich der Förderung einer barrierearmen und inklusiven Nachbarschaft. Die Kommunikationswissenschaftlerin ist selbst auf den Rollstuhl und eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen.
Sven Siebert ist selbständiger Moderator und hat die Landeshauptstadt München in einem Vorläuferprojekt zur inklusiven Sozialplanung wissenschaftlich beraten. Im Tandem mit Melanie Bergzoll versucht er, Betroffene zu Beteiligten und Engagierten im Sozialraum zu machen.
Organisation: Ois inklusiv! im NachbarschaftsTreff Giesing, Neuschwansteinplatz 12, 81247 München
