“Suppe für Alle” vs. Business Lunch 

– wie wir sozial-kulturelle Nachbarschaftsarbeit in Berlin-Mitte machen. Gelebte Gemeinwesenarbeit beim Träger FiPP e.V.

Garten des Stadtteilzentrums KREATIVHAUS in Berlin Mitte. (c) Kreativhaus

Rund um den Potsdamer Platz treffen Tourist*innen auf Menschen, die teilweise von ihrer täglichen Arbeit nicht leben können. Es treffen graue Hochhausschneisen auf lokale Initiativen, die das Zentrum Berlins grüner machen wollen. Und es treffen gut situierte Zugezogene aus Süddeutschland, die ihren Lebensabend im aufregenden Berlin verbringen möchten, auf Sexarbeiter*innen aus dem Osten Europas. 

Westlich und östlich des Potsdamer Platzes gestalten wir beim Träger FiPP e.V. Gemeinwesenarbeit. Zwischen dem Bahnhof Zoologischer Garten und dem Alexanderplatz gestalten wir die Arbeit im Stadtteilzentrum, in Mehrgenerationenhäusern, im Kiez Zentrum, im Kieztreff, im Familienzentrum und mit Stadtteilkoordinationen, die alle Anlaufpunkte für die komplexen Nachbarschaften in Berlin-Mitte sind.

Der Kieztreff in der Leipziger Straße in Berlin Mitte ist durch das Engagement von Nachbar*innen, dem KREATIVHAUS und der mobilen Stadtteilarbeit entstanden. Nun ist der Kieztreff ein neuer Raum, der Angebote für und von Nachbar*innen schafft. Als Satellit-Projekt wurde der Kieztreff in die grundständige Förderung des nahegelegenen Stadtteilzentrums aufgenommen und von dort gesteuert. 
Die mobile Stadtteilarbeit wurde in den letzten zwei Jahren als EU-gefördertes Projekt an 37 Standorten in Berlin eingesetzt. Ziel war es, (drohende) Einsamkeit in Folge der Corona-Pandemie abzumildern und Nachbarschaft zu stärken.

Dezentrale Orte der Nachbarschaft schaffen

Berlin-Mitte ist nicht gleich Berlin- Mitte, sondern besteht aus vielen kleinteiligen Nachbarschaften. Die mobile Stadtteilarbeit #kreativmobil hat durch aktivierende Befragungen aufgezeigt, wie sehr sich die Bedürfnisse der Nachbar*innen in zwei direkt nebeneinander liegenden Kiezen unterscheiden. Besonders bei Senior*innen reduziert sich der Mobilitätsradius und lokale Begegnungsorte gewinnen an Wichtigkeit. 

Gemeinwesenarbeit ist besonders wirkungsvoll, wenn sie in den Lebensräumen der Bewohner*innen stattfindet. So hat sich 2023 aus dem KREATIVHAUS ein Satellit herausgebildet: der Kieztreff Leipziger Straße. Gemeinsam mit der lokalen Initiative IG Leipziger Straße (IGL) bieten wir vor Ort Raum und Unterstützung für Nachbar*innen, Beratung und Selbsthilfe an, fördern ehrenamtliches Engagement, gestalten sozial-kulturelle Angebote und kommen zu stadtentwicklungspolitischen Themen ins Gespräch. Hier zeigt sich exemplarisch der Mehrwert des Zusammendenkens und Zusammenarbeitens stadtpolitischer Initiativen und Nachbarschaftsarbeit.

Menschen beim Kiezfrühstück, ein Angebot der Stadtteilmütter im MGH Villa Lützow, (c) Kreativhaus

Räume für alle und Schutzräume gestalten  

Wenn sich Menschen begegnen, wenn Kinder, queere Menschen und Senior*innen aufeinandertreffen, birgt dies Potenziale und Herausforderungen. Im Kiezzentrum Villa Lützow, einer Einrichtung bestehend aus dreizehn Projekten von fünf Trägern, mit den Schwerpunkten Gemeinwesenarbeit, LSBTIQ* und Mehrfach-diskriminierung, Familien-, Kinder- und Jugendarbeit, Senior*innenarbeit und Natur, werden durch das Nebeneinander der verschiedenen Zielgruppen spezifische Arten von Diskriminierung sichtbar. Hier bauen wir in der täglichen Arbeit immer wieder situativ Vorurteile ab und moderieren das Konzept der Villa Lützow als sicheren Raum für alle. 

Gerade im Abbau von Vorurteilen und der Förderung solidarischen Handelns sehen wir eine Chance der sozial-kulturellen Arbeit. Dies stärken wir über verschiedene kulturelle Formate, wie zum Beispiel eine inklusive Lesebühne. 

Hier kommen  Bewohner*innengruppen, die sonst wenige Berührungspunkte haben, über kulturelle Tätigkeiten und mithilfe der moderierenden Stadtteilarbeit in Kontakt.  Auf der anderen Seite entwickelt die sozial-kulturelle Arbeit empowernde Angebote und verschiedene Aktionen für Personengruppen mit Diskriminierungserfahrungen.

Im Kiez Zentrum Villa Lützow sind neben Kindertreff, queerem Jugendzentrum und weiteren sozialen Projekten auch Stadtteilarbeit in Form von Stadtteilkoordination Tiergarten Süd und Mehrgenerationenhaus (MGH) verortet. Das MGH setzt zurzeit das Projekt Villa inklusiv um, ein vom Bundesprogramm Demokratie Leben! gefördertes Projekt mit dem Schwerpunkt Vielfaltgestaltung in der Nachbarschaft. 
Die Mehrgenerationenhäuser werden über das Bundesprogramm Mehrgenerationenhäuser vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert und haben die Aufgabe intergenerative Angebote zu schaffen und die Nachbarschaft durch Vernetzung zu stärken.

In den Projekten des Kiez Zentrums Villa Lützow bekommen Menschen den (Schutz-)Raum, den sie brauchen, beispielsweise durch einen Workshop für queere PoC zum Thema Consens (Gladt e.V.) oder das CookOut für queere Menschen (Mehrgenerationenhaus). 

Für diesen gesellschaftspolitischen Anspruch gehen wir proaktiv auf die Menschen im Stadtteil zu: sei es durch die aktivierende Befragung der mobilen Stadtteilarbeit, durch die offene und einladende Arbeit der Stadtteilkoordination oder durch eine Nichtnutzer*innen-Befragung. Damit aktivieren wir Menschen, die nicht die Ressourcen haben, sich die zur Verfügung stehenden Räume im Stadtteil selbst anzueignen.

(c) Kreativhaus

Menschen in ihren Erfahrungen anerkennen 

Eine besondere Rolle in der Nachbarschaft spielen Mitbürger*innen mit Migrationserfahrung. Wenn sie nach der Flucht vor einem Neustart stehen, benötigen sie besondere Unterstützung. Gleichzeitig bringen sie einen Rucksack voller Erfahrungen mit. Oft wird gefragt, warum Neuberliner*innen oder mehrsprachige Nachbar*innen sich wenig(er) beteiligen und engagieren. 

Stadtteilzentren sind doch offene Häuser und laden dazu ein, wie es als Motto auch an jeder Einrichtung steht. Dafür braucht es aber Grundlagen, wie beispielsweise mehrsprachige Ansprechpartner*innen im Haus und pädagogische Fachkräfte, Räume, etc. 

Grundsätzlich können ankommende Menschen erst über Engagement und Freizeitgestaltung nachdenken, wenn entsprechend der maslowschen Bedürfnispyramide, die ersten vier Bedürfnisse abgedeckt sind. Migration oder Flucht bedeuten Unsicherheit, viel Bürokratie, Fehler machen und learning by doing.

Das bedeutet also für die Gemeinwesenarbeit:

  • Sichtbare Werbung von diversen, mehrsprachigen Beratungsangeboten, 
  • Verweisberatung in Sonderfällen
  • Eigene Erfahrungen in persönlichen Gesprächen teilen 
  • Anerkennung der Parallelwelten, auch als Schutzräume

Augenhöhe ist wichtig, und Augenhöhe bedeutet Geben und Nehmen. Mamad im SprachCafé sagt immer wieder: „Ich bekam Hilfe als ich hier ankam, jetzt biete ich meine Zeit an, damit die Neuberliner*innen einen noch schnelleren Weg zur Integration finden.“ Mamad agiert nach dem Motto “einfach machen”, schaut mit Respekt auf die Geschichten der SprachCafé-Teilnehmenden und empowert sie mit jedem Wort und Hinweis zur Alltagsgestaltung.

Das SprachCafé ist Teil der Gemeinsam-Kultur aus der Rahmenkonzeption des Stadtteilzentrums KREATIVHAUS. Im KREATIVHAUS sind außerdem ein Stadtteilzentrum , ein Mehrgenerationenhaus und ein Familienzentrum ansässig. Die Stadtteilzentren in Berlin werden über das Infrastrukturförderprogramm Stadtteilzentren gefördert und durch die Senatsverwaltung Arbeit, Soziales, Gesundheit, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung (SenASGIVA) gesteuert. Weitere (Drittmittel-)Projekte des Hauses sind: RAZOM, ein Projekt, das Neuzugezogene, geflüchtete Familien mit Alteingesessenen in Begegnung und Austausch bringt. Die Nachbarschaftswerkstatt des Mehrgenerationenhauses verbindet Nachbar*innen über das Element Holz und Themen wie Upcycling, Reparieren und Herstellen.

Augenhöhe bedeutet auch, Raum für die Selbstentfaltung zu geben. Unser Café-Bereich ist für alle da. Offene informelle Gruppen können hier eigene Initiativen starten. Augenhöhe bedeutet ebenso, den Kontakt zu Vorbildern zu ermöglichen, indem Gruppen (gesellschaftlich und beruflich) die Möglichkeit haben sich zu mischen. 

Im NähCafé begegnen Neuberliner*innen anderen Frauen*, die vor 4-5 Jahren geflüchtet sind. Im Fokus unserer Reflexion steht dabei, paternalistischen Situationen präventiv entgegenzuwirken. Unser pädagogischer Ansatz zur Sprachförderung ist außerdem eine diverse Teamstruktur. Die Stadtteilarbeit ist keine Gastgeberin, keine Dienstleisterin und nicht für, sondern aktiv mit der Nachbarschaft. Wir machen keine Integrationsarbeit, wollen „Gemeinsam“- Kultur statt Willkommenskultur: auf die Bedarfe eingehen, die Gruppen beobachten und politisch weitere Themen ausarbeiten, die Menschen dabei unterstützen, Möglichkeiten für selbstwirksame Erfahrungen wahrzunehmen und in der Gesellschaft sichtbar zu werden.

 Nachbarschaftsarbeit als politische Arbeit sehen

Unsere sozial-kulturelle Arbeit verstehen wir als politische Aufgabe. Wir schaffen Angebote, in denen sich Gruppen treffen, mit dem Wissen, dass Begegnung zwischen Gruppen, die gegenseitige Vorurteile haben, eine der effektivsten Arten der Antidiskriminierungsarbeit ist (vgl. Paluck, Green 2009). Wachsenden anti-demokratischen und rechtspopulistischen Tendenzen kann durch Aktivtäten begegnet werden, die sich nicht um Konkurrenz drehen. Dafür bieten wir niedrigschwellige interessenbezogene Angebote, wie zusammen Kochen und Essen – so auch die “Suppe für Alle” der mobilen Stadtteilarbeit, bei der Senior*innen aus der Nachbarschaft zusammenkommen. 

Wir unterstützten die Nachbarschaft auch in ihren Anliegen und Sorgen zur Verdrängung und Verteuerung im Stadtteil. „Demokratie heißt schließlich nicht nur alle vier Jahre wählen zu gehen, sondern die Angelegenheiten der Allgemeinheit selbst mit in die Hand zu nehmen” (Gallander, 2018). Außerdem ist es uns wichtig, die Nutzenden unserer Einrichtungen partizipativ einzubeziehen und mitbestimmen zu lassen. Dies gelingt uns durch vielfältige Formate, wie beispielsweise regelmäßige Befragungen oder offene Teamsitzungen für alle Honorarkräfte und ehrenamtlich Engagierten. 

Der gestiegenen sozialen Isolation und dem Bedarf an Selbsthilfegruppen, insbesondere in Folge der Corona-Pandemie, begegnen wir mit entsprechenden Angeboten. Die mobile Stadtteilarbeit hat individuelle Beratung auf der Straße durchgeführt. Der Nachfrage an Selbsthilfegruppen sind wir schnell und bedarfsgerecht gefolgt und bieten sie unter anderem zu den Themen Sterben, Wechseljahre oder für LGBTIQ*-Angehörige an. Formate der Einzelbetreuung, wie in der digitalen Sprechstunde für ältere Menschen, lösen wir durch Gruppenformate ab, um Begegnung zu stärken.

Die Stadtteilkoordination wird über die lokale Verwaltungseinheit (über das jeweilige Bezirksamt) Sozialraumorientierte Planungskoordination gefördert. Ihre Aufgabe ist es vor allem, die Kommunikation zwischen lokalen Akteur*innen und der Verwaltung des Bezirks zu verbessern.

Stadtteilarbeit vernetzen

In den Stadtteilen rund um den Potsdamer Platz wirken verschiedene Formen der Stadtteilarbeit zusammen und decken verschiedene Funktionen ab (vgl. Franke, Grimm 2002). Unsere MGHs und das Stadtteilzentrum profitieren von den Zugängen und der Expertise der Stadtteilkoordination, die eng im Austausch mit der öffentlichen Verwaltung steht und die Verknüpfung zwischen ehrenamtlichem Engagement in den Stadtteilen mit dem Bezirk sowie dem KREATIVHAUS oder dem Kiez Zentrum verzahnt. Mehrgenerationenhäuser stärken die lokalen Akteur*innen und Bewohner*innen. In den letzten zwei Jahren hat die mobile Stadtteilarbeit durch ihre aufsuchende Arbeit, Bedarfe von Nichtnutzer*innen schneller erfasst und beantwortet.

FiPP bei einer Demo gegen Kürzungen im Jugendhilfebereich am 14.09.2023 vorm Berliner Abgeordnetenhaus

Neben der Vernetzung der Akteur*innen vor Ort, begleitet beim Träger FiPP e.V. eine Bereichsleitung und eine Fachberatung für Stadtteilarbeit die Projekte vom Antrag bis zum Sachbericht und sorgt für regelmäßigen fachlichen Austausch, Input und Weiterentwicklung. Strukturelle Probleme werden analysiert und für die fachpolitische Kommunikation im Träger besprochen oder Handlungsimpulse erarbeitet. So entwickelte FiPP e.V. zum Beispiel eine Postkarten-Kampagne an die Berliner Abgeordneten (begleitet vom #WirliebenStadtteilarbeit) gegen die pauschalen Einsparungsmaßnahmen, die unsere sozial-kulturellen Projekte auf unterschiedliche Art und Weise treffen. Andere Finanzierungen werden zwar nicht gekürzt, aber Mehrbedarfe vermutlich nicht berücksichtigt, was sich im Zuge von Inflation und Tarifanpassungen wie eine Kürzung auswirkt.

Der Fachaustausch unter den Einrichtungen legt offen, unter welchen knappen finanziellen Bedingungen die hauptamtlichen Menschen ihre Angebote schaffen. Ein Fachaustausch innerhalb des Trägers hilft auch, die verschiedenen Rahmenbedingungen der einzelnen Fördersituationen gegenseitig zu verstehen und gezielter nach Synergieeffekten zu suchen. Die Fachberatung und die Bereichsleitung geben Ressourcen zur Drittmittelakquise hinzu und sichern die Weiterentwicklung der Stadtteilarbeit im Träger mit ab.

Wir sind immer interessiert an Austausch und Verbundenheit. In diesem Sinne laden wir Euch herzlich ein, uns kennenzulernen: Trefft uns im MGH Café im Kiez Zentrum Villa Lützow, stellt euer eigenes Holzobjekt in der Nachbarschaftswerkstatt her oder genießt beim nächsten Berlin-Besuch, 500 Meter hinter dem Stadtschloss, den Garten des Stadtteilzentrums KREATIVHAUS.

Quellen: 

Levy Paluck, Elizabeth, Green, Donald P. (2009) Prejudice reduction: what works? A review and assessment of research and practice pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18851685/ (rev.08.09.2023)

Salmela, Mikko; von Scheve, Christian (2017) Emotional roots of right-wing political populism journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0539018417734419 (rev. 08.09.2023)

Gallander, Sebastian (2018) Why Volunteering Is the Pulse of Democracy www.tbd.community/en/a/why-volunteering-pulse-democracy (rev. 08.09.2023)

Franke, Thomas; Grimm, Gabi (2002) Quartiermanagement als Instrument eienr integrativen Stadtteilentwicklung -konzeptionelle Grundlagen und Praxiserfahrungen www.uni-due.de/imperia/md/content/biwi/einrichtungen/issab/quartiermanagementinstrument.pdf (rev. 06.09.2023)

Mentorium (2022) Bedürfnispyramide nach Malsow I Die 5 Bedürfnisse einfach erklärt www.mentorium.de/beduerfnispyramide-maslow/ (rev. 08.09.2023)

Pickel, Gert; Decker, Oliver; Reimer-Gordinskaya, Katrin (2021) Der berlin-Monitor 2021.Die herausgeforderte Demokratie der Großstadt https://berlin-monitor.de/wp-content/uploads/2021/11/BerlinMonitor4_S001-126_print.pdf (rev.08.09.2023)


Autor*innen: 

Dorota Kot, Einrichtungsleitung des Stadtteilzentrums KREATIVHAUS auf der Fischerinsel, Bezirksregion Alexanderplatz in Berlin-Mitte

James Rosalind, Hauskoordination des Kiez Zentrums Villa Lützow und koordiniert das Mehrgenerationenhaus Villa Lützow in Tiergarten Süd, Bezirksregion in Berlin-Mitte 

Jenny Roberts, Bereichsleitung Jugendhilfe und Sozialraum beim Träger FiPP e.V. 

Fritzi Rother, Fachberatung für Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit beim Träger FiPP e.V. 

Max Söding, Stadtteilkoordination in Tiergarten-Süd, Bezirksregion in Berlin-Mitte.

Organisation: FiPP e.V., Sonnenallee 223a, 12059 Berlin 

www.fippev.de