"Kochen & Kultur“ in der Fabrik Osloer Straße e.V.  

- Versuch der sozialen und kulturellen Teilhabe in einem prekären Stadtgebiet

Gemeinschaft erleben in schwierigen Zeiten, Alltag und Probleme für einen Abend in den Hintergrund treten lassen, gemeinsam kochen und essen, neue Bekanntschaften pflegen über Trennendes hinweg, Kultur und Unterhaltung genießen. Wie viele Bedürfnisse unserer Nachbar*innen wir mit unserem neuen Veranstaltungsformat „Kochen und Kultur“ ansprechen würden, das konnten wir, die Mitarbeitenden des Stadtteilzentrums und der Mobilen Stadtteilarbeit Fabrik Osloer Straße e.V., zu Beginn unserer Veranstaltungsreihe nicht erahnen. Doch zum Anfang zurück:

Das Jahr 2023 beginnt für viele unserer Nachbar*innen im Soldiner Kiez mit großen Ängsten und Unsicherheiten: Die Energiepreise steigen sprunghaft und einige Hausverwaltungen schicken ihren Mieter*innen phantastische Betriebskostenerhöhungen ins Haus. Die Inflation besonders der Lebensmittelpreise frisst alle Reserven. Kann ich meine Wohnung den Winter hindurch heizen oder muss ich im Kalten sitzen? Wird das Einkommen für die Stromrechnung und für eine auskömmliche Versorgung mit Lebensmitteln reichen? Existentielle Fragen bedrücken die Nachbar*innen im Soldiner Kiez, von denen viele schon vor der Energiekrise in prekären und unsicheren Verhältnissen leben. Angst bestimmt den Alltag vieler Menschen, sich das Leben, die Wohnung und die tägliche warme Mahlzeit nicht mehr leisten zu können. 

Existentielle Sorgen beschränken das soziale Leben im Kiez. Armut bringt Ausgrenzung und Einsamkeit hervor. Wo ein immer größerer Teil der Nachbarschaft mit der täglichen Existenzsicherung beschäftigt ist, da bleibt für Geselligkeit, soziales Miteinander oder gar Kulturgenuss kein Raum -  zumal soziales und kulturelles Erleben selten kostenfrei zu haben sind. 

Im Stadtteilzentrum NachbarschaftsEtage spüren wir im Winter 2022/23, wie die existentiellen Nöte unserer Besucher*innen mit jedem Tag größer werden. Mehr und mehr Besucher*innen ist es wichtig, bei uns neben den sozialen Angeboten auch eine kostenfreie Mahlzeit zu bekommen. Der Senat für Integration, Arbeit und Soziales reagiert mit dem „Netzwerk der Wärme“, einem neuen Programm ab 2023, mit dem kurzfristig niedrigschwellige Orte der Begegnung und des Ausbaus solidarischer Infrastruktur gefördert werden.

Zeit für das Team der NachbarschaftsEtage, Neues auszuprobieren. Und: Warum nicht das Existentielle mit dem Angenehmen verbinden? Das Veranstaltungsformat „Kochen und Kultur“ entsteht als ein Experiment, von dem wir nicht wissen, welche Menschen wir erreichen bzw. ob es überhaupt angenommen wird: Wir beschließen, regelmäßig an einem Abend der Woche gemeinsam mit den Nachbar*innen zu kochen und zu essen und danach eine Kulturveranstaltung in unseren Räumen anzubieten. Die Veranstaltungen sind kostenfrei und ohne Anmeldung. Wer kann, spendet.

Schnell sind einige Musiker*innen im Umfeld der Fabrik Osloer Straße angesprochen und bereit, für eine kleine Aufwandsentschädigung das Projekt zu unterstützen. Klar ist auch, dass wir unbedingt auf ehrenamtliches Engagement bei der Durchführung angewiesen sind. Gemeinsames Kochen mit der Nachbarschaft ist immer ein großer Aufwand und nicht allein mit hauptamtlich Beschäftigten zu stemmen. Wir sprechen die ersten Besucher*innen des Stadtteilzentrums an, ob sie Lust haben, beim Kochen und Getränkeausschank zu helfen. Auch ein Tontechniker aus unserem Umfeld signalisiert seine Bereitschaft zur ehrenamtlichen Unterstützung - für die Durchführung der Konzerte unverzichtbar.

(c) Fabrik Osloer Straße

Die Planung für die ersten drei Veranstaltungen steht und am 24.01.23 beginnt unsere neue Veranstaltungsreihe. Die Vorbereitung wirft viele Fragen auf: Werden unsere Nachbar*innen kommen? Oder wird die Veranstaltung ein Flop? Wir beginnen mit den Vorbereitungen für das Essen. Kartoffeln mit Quark und dazu ein Salat stehen auf dem Speiseplan. Möglichst wenig Aufwand – aber doch genug für…? Wie viele Personen können wir erwarten? Trotz Öffentlichkeitsarbeit auf allen unseren Kanälen bleibt die Einschätzung darüber vage.

Wir öffnen unsere Türen um 17.30 Uhr, unser Nachbarschaftstreffpunkt füllt sich nach und nach. Die Stimmung ist voller Erwartung und sofort bieten Nachbar*innen ihre Hilfe beim Kochen an. Der Quark ist schnell zubereitet und den Salat schnippeln wir gemeinsam. Es herrscht geschäftiges Treiben. Als wir das nächste Mal in den Veranstaltungsraum schauen, sehen wir diesen bereits gut gefüllt! Schnell stocken wir die Mengen für das Abendessen auf. Glücklicherweise waren wir großzügig beim Einkauf, so dass die Küche Reserven hergibt. Die Tische rücken wir in Gruppen zusammen, so dass wir in Gemeinschaft essen können. Eine gute Stunde nach Öffnung sitzen alle bei guter Stimmung zusammen, essen und trinken. Es herrscht angenehme Unterhaltungsatmosphäre. Auch die Künstler* dieses ersten Abends sind eingetroffen, bestehend aus dem bekannten und virtuosen Folk-Duo Michael Waterstradt und Wolfgang Meyering. 

Während wir essen werden die Instrumente (Kontrabass, Mandoline, Gitarre und Mandola) ausgepackt und die Musikanlage ausprobiert. Wir zählen etwa 45 Gäste! Darunter bekannte und unbekannte Gesichter, Senior*innen, die wir aus anderen Projekten der Fabrik kennen und junge Menschen. Wir sehen unsere ukrainischen Nachbar*innen, die von uns seit ihrer Ankunft in Deutschland begleitet werden, und arabische Gäste, die ihre Freund*innen mitgebracht haben. Die Stimmung ist gut und erwartungsvoll.

Was folgt, ist ein energiegeladenes und virtuoses Konzert, Folk vom Feinsten, Tanzbares und plattdeutsche Lieder und dank dem großartigen Duo Waterstradt & Meyering eine tolle Stimmung unter unseren Gästen. Und wenn die Musiker*innen bei uns auch ein für ihre Konzerte zahlenmäßig kleines Publikum vorfinden, so entwickelt sich gemeinsam mit unseren Besucher*innen eine begeisternde Atmosphäre, die sich in Applaus mit Fußgetrampel und dem lautstarken Verlangen nach musikalischen Zugaben äußert.

Nach der Veranstaltung ist vor der Veranstaltung. Bis Anfang April organisierten wir in wöchentlicher Regelmäßigkeit Konzert für Konzert, immer mit vorherigem gemeinsamen Kochen und Essen. Spätestens bis zur 3. Veranstaltung hatten wir ein verbindliches ehrenamtliches Team aufgebaut, das uns regelmäßig beim Einkauf und bei der Zubereitung der Mahlzeiten unterstützt. Darunter finden sich uns bekannte Aktive und solche, die erst über „Kochen und Kultur“ den Weg zur Fabrik Osloer Straße e.V. gefunden hatten. Hilfe bekamen wir an jedem unserer Abende spontan aus der Nachbarschaft. Immer finden sich Gäste, die spontan bereit sind, uns beim Gemüseschnippeln und bei der Essenszubereitung mit Rat und Tat zu unterstützen. An manchen Abenden meldeten sich im Vorfeld ehrenamtliche Kochgruppen, die das Kochen planten und mit übernahmen. Manchmal steuerten Gäste ihr Know-how bei, wenn wir in der Küche nicht weiterwussten, wie z.B. bei der Zubereitung von Tabbouleh (libanesischer Salat) an einem arabischen Abend. Selbstverständlich wussten unsere arabischen Gäste viel besser, in welchem Verhältnis die Zutaten zu vermengen sind und unterstützten uns mit Freude.

Unser Programm entwickelte sich Schritt für Schritt: Wir konnten Musiker*innen aus unserem Umfeld ansprechen, die wir z.B. von Stadtteilfesten kannten. Für zwei Veranstaltungen konnten wir uns mittels des Förderprogramms KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V. Künstler*innen vermitteln lassen. In dem Maße, in dem unsere Veranstaltungen bekannt wurden, kamen auch Musiker*innen von sich aus auf uns zu und boten ein Konzert an. Sie alle spielten für unser Publikum gegen eine geringe Aufwandsentschädigung. Ausdrücklich ist dies der Beitrag der Künstler*innen für die Menschen in einem prekären Stadtviertel. Es ist dies ihr Engagement gegen die Ausgrenzung durch Armut, für eine soziale Gemeinschaft und für die kulturelle Teilhabe derer, die das Geld für den Besuch eines kommerziellen Konzertes der bei uns aufgetretenen Künstler*innen nicht hätten. Genau in diesem Bewusstsein spielten die Musiker*innen vor unserer Nachbarschaft bei „Kochen und Kultur“.

(c) Fabrik Osloer Straße

Und die Besucher*innen? Bis heute erfreut sich „Kochen und Kultur“ großer Beliebtheit. Klassische Konzerte (z.B. Yuta Nishiyama & Ayano Kamei an der Bratsche) sind genauso gefragt wie eine fetzige Tanzperformance (Dina Nour und Kdindie), die zum Mittanzen einlädt.

Nach elf Konzerten im wöchentlichen Turnus nahte der Sommer und wir reduzierten unser Angebot auf zwei Veranstaltungen monatlich. Außerdem öffneten wir unser Kulturangebot um weitere Genre: Es folgten z.B. Lesungen mit anschließender politischer Diskussion („My Mirgrant Mama Superstar“), eine Darstellung über die Arbeit des Zeichentrickkünstlers Sinan Güngör, der „Die Sendung mit der Maus“ und „Lars, der kleine Eisbär“ gezeichnet hat, eine Veranstaltung über die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen mit Iris Müller und Jan Ngo von Cycling for Society e.V. sowie eine Theaterperformance des Senior*innentheaters „Spätzünder“ und ein Theaterbesuch beim Forumtheater des Projekts „Kuringa“. Die Zahl der Gäste schwankt zwischen 30 und 70 Besucher*innen, je nach Art der Veranstaltung. Ein fester Besucher*innenstamm umfasst etwa 30 Nachbar*innen, die zu beinahe jeder Veranstaltung kommen, egal ob Sommer, Winter, oder Platzregen. 

Die wiederkehrenden Gäste haben oft über Sprachbarrieren oder kulturelle Unterschiede hinweg untereinander rege Kontakte geknüpft. Einige pflegen diese weit in ihr Privatleben hinein. Wir erlebten berührende Szenen z.B. bei der Lesung aus „My Migrant Mama Superstar“, in der sich Besucher*innen wiederentdeckten oder beim Spiel des russischen Pianisten Arseny Rykov, der auf Wunsch unserer ukrainischen Gäste Tanzmusik spielte und diese zum Paartanz animierte. Regelmäßige Besucher*innen fühlen sich wohl, sicher und geachtet im Stadtteilzentrum. Manche sprechen von ihrem zweiten Zuhause und immer wieder bekommen wir die Rückmeldung, dass unsere Veranstaltungen ihnen helfen, Einsamkeit und Ängste des Alltags zu überwinden und Kontakte zu pflegen. Immer wieder sind wir auch erstaunt, mit welcher Offenheit unsere Gäste unseren sehr, sehr verschiedenen Kulturangeboten begegnen. Nicht jede*m gefällt jede Veranstaltung gleichermaßen, aber alle erfreuen sich an der gemeinsam verbrachten Zeit. 

Insgesamt ist die Veranstaltungsreihe ein voller Erfolg, sowohl was den sozialen Halt der Besucher*innen als auch die kulturelle Teilhabe betrifft. Aktuell können wir die Veranstaltungsreihe bis zum Ende des Jahres 2023 fortsetzen. Da leider das Förderprogramm „Netzwerk der Wärme“ zu Ende geht und auch die Fortsetzung der Förderung für die Mobile Stadtteilarbeit durch den Senat für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration und Antidiskriminierung zwar angekündigt, aber noch nicht konkretisiert werden konnte, ist die Fortsetzung von „Kochen und Kultur“ ab Januar 2024 ungewiss. Wir haben viele weitere Ideen und sehen auch unter unseren Gästen noch eine Menge Potential, in Interessengruppen aktiv zu werden und sich für weitere Aktivitäten zusammen zu schließen. Ein Ende der Veranstaltungsreihe wäre ein großer Verlust für uns und unsere Nachbarschaft und wir hoffen auf ausreichende Ressourcen und Förderung, die uns und unseren Nachbar*innen Veranstaltungen im nächsten Jahr ermöglichen.  

Bleibt noch ein großes Dankeschön an unsere sehr verlässliche ehrenamtliche Küchencrew (Claudia, Vita, Frank, Gerald, Yanneck, Johanna und Franzi) und an Klaus, unseren Haustechniker, ohne die wir die Veranstaltungen nicht hätten durchführen können, und ein Dank an die vielen Künstler*innen, die bereit waren, bei uns und für unsere Nachbarschaft aufzutreten!


Autorin: Sabine Röseler mit Unterstützung des Teams der NachbarschaftsEtage

Organisation: Fabrik Osloer Straße e.V., Osloer Straße 12, 13359 Berlin

www.nachbarschaftsetage.de/