Sozialraum und gesellschaftliche Genese - 

Wie Individuen zur (demokratischen?) Gesamtheit werden

Dr. Piotr van Gielle Ruppe

(c) Piotr van Gielle Ruppe

Demokratie in der Krise

Im Jahr 2025 steckt die Demokratie in Europa in einer tiefen Krise. Auch wenn es bei weitem nicht die erste ist, so erscheint sie doch besonders und schwerwiegend; zum einen, da jene politischen Strömungen, welche das System an sich in Frage stellen, paradoxerweise auf demokratischem Wege große Erfolge verzeichnen. So erfreute sich die AfD in jüngster Zeit einer wachsenden Wählerschaft, obwohl dort regelmäßig die Rede davon ist, die parlamentarische Ordnung und das Parteisystem zu stürzen. Zum anderen zeichnet sich die Krise aber auch durch ihre Reichweite aus – Viktor Orbán und Fidesz in Ungarn, PiS in Polen, Marine le Pen und Rassemblement National in Frankreich, Geert Wilders und Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, Giorgia Meloni und Fratelli d’Italia in Italien oder Vox in Spanien, sind weitere Fälle. Viel Augenmerk gilt im Rahmen dieser Krise den demokratischen Parteien, welche sich seit Jahren dem Vorwurf stellen müssen, zunehmend an Ideen und Integrität vermissen zu lassen, bürger:innenfern und immer nur nach denselben Mustern zu agieren und die Rhetorik sowie Programmatik der antidemokratischen Kräfte nachzuahmen (Jun 2016). So ist Angesichts der Erfolge der AfD derzeit in Deutschland in sämtlichen Parteien eine immer restriktivere Haltung im Bezug auf Migration und Asyl vorzufinden. Ein Interesse an den Wähler:innen besteht vorwiegend zum Zweck einer Rekonstruktion des jeweiligen Wahlverhaltens – welche Lebensumstände und politische Erfahrungen denn dazu geführt haben, dass man bei der Wahl an dieser oder jener Stelle das Kreuz setzt und nicht woanders. Dabei wären vielleicht ganz andere Dinge zu betrachten, um dieser Krise entgegenzuwirken zu können.

Wer ist denn nun dieses Volk?

Denn weitgehend unbeachtet im Hinblick auf eine Herrschaft des Volkes über sich selbst bleibt das Verhältnis des/der Einzelnen zur Gesellschaft – um deren kollektives, selbstbestimmtes Schicksal es im Rahmen von Demokratie letztendlich geht. Zwei generelle Tendenzen stehen hierbei einander gegenüber. Die Vorstellung des Homo Oeconomicus (Knight 1999), welcher im demokratischen System einzig und allein entsprechend der eigenen Bedürfnisse und Vorteile agiert sowie die generelle Idee von Gemeinschaft, bei welcher sich Menschen als verantwortlich füreinander empfinden und ihr politisches Handeln dementsprechend umsichtig ausrichten. Die Definition des demokratischen Souveräns – wer denn nun genau dieses Volk ist, welches sich da selbst beherrscht – ist dabei stets im Wandel, Gegenstand von Aushandlungen, umkämpft und kontrovers (Habermas 1962). Schon in der Athenischen Demokratie, als dem zentralen historischen Referenzpunkt, war jedem freien Bürger die Teilhabe an gemeinschaftlichen Entscheidungen möglich - per Definition ausgeschlossen waren jedoch Frauen, Sklaven und Metöken (nach heutigem Verständnis wohl sowas wie Ausländer oder Zugezogene). Zusammengenommen stellten sie einen Großteil der Bevölkerung dar, über welchen mitentschieden wurde. So kann man trotz der aktuellen Krise immerhin positiv attestieren, dass wir grundsätzlich schon ein ganzes Stück weitergekommen sind.

Die große Frage nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Macht – worauf sie basieren, für wen sie wo anfangen und aufhören, an welche Bedingungen sie geknöpft sind – kann sogleich ergänzt werden um die Frage danach, wie sie eigentlich individuell erfahren und justiert werden. Dieser gehen wir im Folgenden nach.

Gesellschaft als die Summe seiner Teile

Benedict Anderson verweist in „Immagined Communities“ (1983), seinem klassischen Werk zur Entstehung von Nationen, darauf, dass es auch in den kleinsten Nationalstaaten nicht möglich ist, mehr als nur einen Bruchteil der Menschen zu kennen, mit welchen man gemeinsam eine Gesellschaft bildet. Die meisten Menschen, die in einer Demokratie ihre gemeinsame Regierung wählen, werden einander niemals begegnen. Das Verhältnis zueinander basiert weitestgehend auf Vorstellung. Man akzeptiert schlichtweg, dass es diese Menschen gibt, an vielen Orten die man niemals kennenlernen wird und dass man irgendwie im selben Boot sitzt. Diejenigen Erfahrungen, die man mit Menschen macht, dienen dabei als Repräsentation der Gesamtheit. Gemeinhin praktiziert wird dabei die Idee einer nationalen Gesellschaft als Zusammenschluss von Gleichgestellten, entstanden als Schicksalsgemeinschaft, in die man in der Regel hineingeboren wird - so leitet sich das Wort Nation vom lateinischen „natio“ (Volk, Herkunft, Geburt) ab. In den letzten Jahrzehnten gewinnt die Idee einer der Geburt nachträglichen Aufnahme – durch Einbürgerung – in die Vereinigung zwar an immer mehr Akzeptanz, sorgt andererseits jedoch auch für Ablehnung und Assimilationsdruck. 

In der Praxis basiert der Zusammenschluss trotz des egalitären Selbstverständnisses maßgeblich auch auf Ungleichheiten – einer Ober- und Unterschicht, systematisch privilegierten und benachteilten Menschen. Im großen Ganzen bedingen sie einander. Dies wiederum verursacht Dissens darüber, wo die Grenzen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses verlaufen sollten – beispielsweise in Abhängigkeit von Staatsbürgerschaft oder Migrationserfahrungen, der Hautfarbe, der Verortung des Lebensmittelpunkts, der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, politischen Ansichten usw.

Öffentlicher Raum – das Gemeinsame

Die individuelle Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Zugehörigkeit erfolgt zum Teil passiv, medial und abstrakt (beispielsweise, wenn man Berichte über „Menschen mit Migrationshintergrund“, „die Ostdeutschen“ oder „die Jugend“ rezipiert), unmittelbarer und weitaus eingängiger erfolgt sie aktiv im Rahmen von persönlichen Interaktionen im Sozialraum. Räume mit öffentlicher Funktion, in welchen ein Austausch zwischen Fremden stattfindet, das Gemeinsame: Parks, Cafés, Bars, Straßen und Plätze, Stadtteilzentren, sozialen Einrichtungen, Einkaufspassagen, öffentliche Verkehrsmittel, Warteräume in Arztpraxen usw., erfüllen dabei als Plattform die grundlegendste Funktion gesellschaftlicher Genese, indem sie Begegnungen zwischen Fremden ermöglichen (Valentine 2008). Das Verhältnis zwischen Menschen wird im täglichen Handeln erfahren und fortwährend reproduziert. Man kann sich zeigen, wie man ist, die eigenen Anliegen vortragen und sich zu Themen positionieren. Man kann Gleichgesinnte finden oder Ablehnung erfahren, man kann andere Menschen sehen und sich eine Meinung bilden. Kurz gesagt, ist es maßgeblich der Sozialraum, in welchem sich Individuen zu einer Gesellschaft zusammenschließen und sich als Teil von ihr verstehen (oder eben auch nicht).

Unterschiede erfahren

Kollektiv ist Gesellschaft eine permanente Aushandlung, individuell hingegen ist sie ein Lernprozess. Interaktionen zwischen Menschen ermöglichen eine Auseinandersetzung mit sozialer Vielfalt im Allgemeinen. Die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber und Andersartigkeit jedweder Art ist dabei kognitive Anregung und Grundlage persönlicher Entwicklung. Austausch von Wissen und Sammeln von Erfahrungen sind notwendig, um zu bestimmen, wer man selbst eigentlich sein will. Unter günstigen Umständen geht das Erfahren von Unterschieden einher mit einem Zugewinn an Toleranz und Offenheit und (so abgedroschen es auch klingt) einer Erweiterung des eigenen Horizontes. Es handelt sich dabei um zentrale Soft Skills für das Leben in einer diversen Gesellschaft in einer sich immer schneller verändernden globalisierten Welt. Bei ungünstigen Umständen hingegen, wie zum Beispiel rechtlichen Ungleichheiten zwischen Gruppen von Menschen, räumlicher Segregation und Marginalisierung oder extremen Machtgefällen kann soziales Nebeneinander aber auch Brüche verfestigen und Vorurteile sowie Animositäten schüren (Amin 2002). Die Trennlinien verlaufen entlang der klassischen sozialen Kategorien; Ethnizität, Staatsangehörigkeit, Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Wohlstand, Bildungshintergrund, aber auch entlang banaler Attribute, wie dem Musikgeschmack, Sportvorlieben, Essverhalten, Subkulturen usw. Das positive Erfahren sozialer Andersartigkeit wirkt dabei unmittelbar der größten aller gesellschaftsspaltenden Kräfte entgegen; der Angst vor dem Unbekannten.

Günstige Umstände

Gemeinwesenarbeit agiert im Bewusstsein der Bedeutung des Sozialraums (Fürst & Hinte 2020). Stadtteilzentren sind dahingehend besondere Institutionen, dass sie den Sozialraum nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern seine Wirkung reflektieren und zu Gunsten von Inklusivität mitgestalten. In die permanente gesellschaftliche Aushandlung um Zugehörigkeit wird interveniert, indem Angebote daraufhin ausgerichtet werden, sozialer Vielfalt gerecht zu werden, günstige Bedingungen für Begegnungen zwischen Fremden zu schaffen und insbesondere diejenigen Menschen zu adressieren, für welche Hindernisse bei der sozialen Teilhabe bestehen. Dies geschieht in Form von Einsamkeitsprävention, Sprachcafés für Zugewanderte, Barrierefreiheit, Gedächtnistraining für Ältere, Beratung für alleinstehende Eltern, Projekten für Obdachlose usw. Der Wert der Einrichtungen bemisst sich nicht einzig daran, dass unterschiedliche Menschen teilhaben können, sondern auch daran, dass ihre Einbindung auf Augenhöhe erfolgt – selbstbestimmt und ohne Kompromisse in der jeweiligen Identität vornehmen zu müssen. Dies wiederum ist zentrale Vorbedingung wie auch Ausdruck, gleichwertiger und aktiver Teil der Gesellschaft zu sein.

Demokratische Krise als Ergebnis sozialer Polarisierung

Die aktuell in Europa grassierende Krise der Demokratie geht Hand in Hand mit Zerwürfnissen in der Gesellschaft. Diese unterschieden sich zwar in den jeweiligen Staaten im Detail, sind aber alle grundsätzlich durch eine zunehmende soziale Polarisierung und Spaltung gekennzeichnet. So ist es auch kein Zufall, dass die politische Strategie antidemokratischer Kräfte vornehmlich auf Ausgrenzung und populistischer Stimmungsmache gegen Menschen basiert, deren Teilhabe in Frage gestellt werden kann. Diese wird ergänzt um Vorwürfe gegen das System, welches für alles Übel verantwortlichgemacht wird. Das Schüren von Ängsten, die Erklärung komplexer Missstände durch simple Schuldzuschreibungen und ein Aufwiegen der Bevölkerung gegen Schwächere haben sich hierbei als plumpe aber wirksame Strategie zur Zersetzung des demokratischen Systems erwiesen. Die Schwächung der politischen Ordnung ist dabei Konsequenz einer Hinterfragung des demokratischen Souveräns.

Eine andere Welt ist immer möglich

Bei aller Schwere dieser Entwicklung, kann man sich damit trösten, dass sie keineswegs neu oder unumkehrbar ist. Die Demokratie und ihre Funktionsfähigkeit basieren auf den Haltungen der Menschen zueinander. Diese wiederum ist in hohem Maße veränderbar, per se ständig im Wandel begriffen. Selbst der ursprünglichste aller „Biodeutschen“ ist Resultat einer über Jahrtausende reichenden kulturellen und sozialen Durchmischung. Sie ist keineswegs neu. So wie die auf Akzeptanz hoffenden Neuzugewanderten von heute die Chauvinisten von morgen sein können, so lässt sich auch den tiefsten soziokulturellen Spaltungen erstaunlich schnell entgegenwirken, wenn die Bedingungen hierfür geschaffen werden. Gerade in Deutschland wurde ja schon von der einen Generation zur nächsten erfolgreich eine sozial- und kulturpolitische Komplettwende durchgeführt. Nicht zuletzt vermag aller Reaktionismus und apokalyptische Narrative über Fremde und Andere auch nichts daran zu ändern, dass mit wachsender Menge an Menschen und Kommunikation weltweit die soziokulturelle Ausdifferenzierung und Durchmischung weiterhin mit immer größerer Geschwindigkeit zunehmen wird. Die Identitäten von Menschen werden immer komplexer und sie spielen sich auch auf einer zunehmenden Anzahl von Ebenen ab. Und daran ist nichts zu ändern. Sich der Realität zu verweigern wiederum war auf lange Sicht noch nie von Erfolg gekürt.

 

Quellen:

Amin, Ash (2002): Ethnicity and the multicultural city: living with diversity. In: Enivironment and Planning A (2002) (34), 959 - 980

Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. London: Verso

Habermas, Jürgen (1972): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin_ Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co KG 

Fürst, Roland/Hinte, Wolfgang (Hrsg.) (2020): Sozialraumorientierung 4.0 – Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven. Stuttgart: utb

Jun, Uwe (2016): Partien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland – Aktuelle Herausforderungen. BPB. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/parteien-und-parteiensystem-der-bundesrepublik-deutschland-328/219231/aktuelle-herausforderungen/

Knight, Frank (1999): Ethics and Economic Reform. In: Selected Essays by Frank H. Knight. Laissez-Faire: Pro and Con. Band 2. Chicago: Chicago Press. 1 – 75

Valentine, Gill (2008): Living with difference: Reflections on geograhies of encounter. In: Progress in Human Geography 32 (3), 323 - 337

(c) Piotr van Gielle Ruppe

Autor:

Dr. Piotr van Gielle Ruppe ist Referent beim Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Er promovierte in Humangeographie mit Arbeitsschwerpunkten in Sozial- und Kulturwissenschaften sowie Urbanistik und wirkt als freiberuflicher Projektmanager, Dozent und Autor. Die Inspiration für den Text entstand während einer Reise durch zahlreiche kleine und große dabei jedoch immer diverse Nachbarschaften in Kolumbien, Ecuador und Peru.

Organisation:

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. 

Zimmerstraße 26/27, 10969 Berlin

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